Wieso geht man auf die Straße und fotografiert wildfremde Menschen? Da hat jeder Fotograf wohl seine eigenen Ambitionen.
Nach einem 3/4 Jahr in dem Genere will ich einmal versuchen, das für mich selbst zu beantworten. Also warum nehme ich meine Kamera ausgerechnet mit in die urbane Wildnis und versuche Szenen des Alltages einzufangen?
Eine schöne Erklärung ist natürlich, dass zukünftige Generationen sonst nicht wissen werden wie wir heute gelebt haben. Hört sich ja sehr ehrenwert an. Ein Dienst an der Gesellschaft. Aber ist das wirklich so und besteht ein Bedarf? So viele Bilder wie heute wurden noch nie gemacht, da jeder ständig eine Kamera in Form eines Mobiltelefones mit sich herumträgt. Im Gegensatz zu früher verstauben die Bilder auch nicht im heimischen Fotoalbum, sondern ein Großteil wird öffentlich mit der ganzen Welt in den sozialen Medien geteilt. Und auch wenn wenn technisch unperfekt, dokumentarisch geben sie doch das tägliche Leben viel besser wieder, wie wir es als Fotografen je könnten.
Was bleibt also? (Ich wiederhole mal kurz aus meiner Vorstellung, es soll mir erlaubt sein ^^)
Mich reizt vor allem der künstlerische Aspekt. Der Versuch in unserem chaotischen Alltag den kleinen Moment der Perfektion zu finden. Den flüchtige Augenblick, in dem alles richtig arrangiert ist, bevor er wieder unwiderruflich verschwindet, mit der Kamera einzufangen. 
Genau nach den Momenten fiebern und jagen macht für mich den Reiz gegenüber anderen Genres der Fotografie aus. 

Hier ist nichts beeinflussbar, ich kann keine Anweisungen geben, bin einfach auf Fortune angewiesen. Zumindest bis auf ein gewisses Maß. Ein klein wenig kann man seinem Glück ja doch auf die Sprünge helfen. Aber eben nur auf die Sprünge helfen, nichts erzwingen oder planen.
Auf der Suche nach Linien, Licht, einer interessanten Kleinigkeit... dann das Warten und hoffen, dass sich eine passende Szene aufbaut. Die ersten Personen sind  "uninteressant", dann läuft jemand unerwartet mit in das Bild und zerstört die Komposition, minutenlang kommt gar niemand und dann reisst die Menschenmenge wieder nicht ab. Dabei habe ich das fertige Bild doch schon im Kopf. Fiebern auf den richtigen Moment. Jetzt, ein Mann mit Hut läuft auf den Lichtspot zu... Daumen drücken, dass keine andere Person in das Bild läuft, er nicht vorher abdreht oder sich eine Wolke vor die Sonne schiebt... ihr kennt das sicherlich. 
An der nächsten Ecke keine Zeit nachzudenken, die Frau mit dem wehenden Kleid dreht sich um und steht perfekt im Türbogen... Kamera hochreißen und abdrücken... hoffentlich habe ich richtig fokussiert. 
Und weiter gehts...
Ja, ich weiß, ein wenig plakativ, aber genau die Hoffnung auf solche die Szenen ist es, das mich durch die Straßen ziehen lässt. Den spannenden Moment im Banalen des Alltages zu hinterher zu jagen. Und die Freude, wenn wirklich der perfekte Moment auf der Speicherkarte gebannt wurde. 
Während ich stundenlang in der Stadt herumstreife, bin ich durchgängig fokussiert. Keinen Moment verpassen lautet das Motto. Ständig muss ich geistig flexibel und auf alles gefasst sein. Klar hat man sich schon einen gewissen Blick "antrainieren", aber doch wechseln sich die Situationen in schneller Reihenfolge ab und es bleibt meist kaum Zeit sich vorzubereiten. Selbst wenn nichts passiert, bin ich doch ständig alles um mich herum am scannen. Immer auf der Suche nach Motiven. Hört sich eigentlich stressig an, aber für mich der perfekte Weg dem Alltag zu entkommen, Ich kann trotz der Anspannung komplett entspannen. Fast schizophren, aber funktioniert bei mir. (oO... sollte ich mir Hilfe holen??? *lach*) Keine Zeit die Gedanken schweifen zu lassen. Für mich der perfekte "Abschaltmodus". Und hinterher bin ich genau so leer wie meine Akkus. 
Das beschreibt es eigentlich schon im Großen und Ganzen. Dazu kommen dann noch ein paar ganz praktische Aspekte, die einem das Leben als Strassenfotograf zusätzlich versüßen.
Ich bin auf niemanden angewiesen. Brauche weder ein Model, eine Sportmannschaft oder ein scheues Tier. Auf meiner fotografischen Bühne finden sich immer Motive, auch ganz ohne Terminabsprache, Vorgesprächen, Recherche und was weiß ich noch alles. Auch bin ich nach dem Fotografieren niemandem außer mir selbst verpflichtet. Kein Zeitfenster wann Bilder geliefert werden müssen, ja noch nicht einmal der Druck hinterher überhaupt ein gutes Bild zu haben. Ich mache die Fotos ja alleinig für mich! 
Auch geht Street eigentlich immer. Sonne - cool, ich fotografiere Schatten... Nebel oder Regen - klasse Stimmung und ich bin freier bei der Wahl des Hintergrundes... Nacht - mega Licht durch Straßenlaternen... später Morgen - super, die Straßen sind relativ leer und ich kann an sonst belebten Plätzen fotografieren. Das lässt sich beliebig weiterführen. Wenn ich Zeit habe, kann ich also einfach meine Tasche nehmen und losziehen. Hier im Ballungsgebiet kann ich mehrere Kleinstädte und eine Großstadt innerhalb von weniger als einer Stunde erreichen. Traumhaft! 
Und ich kann mir fotografisches Spielzeug kaufen, auf das ich einfach Lust habe. Technisch geht auf der Straße  jede Kamera die je gebaut wurde. Klar, Stabi oder viele Megapixel sind nicht verkehrt, aber eigentlich gibt es keine technische Hürde und so kann ich einfach eine Knipskiste nehmen, dir mir Spaß macht und nicht eine, die technisch am besten ist.
Zu guter letzt Bildbearbeitung. Ach was habe ich das Retuschieren meiner Hundebilder gehasst. Jedes Krümelchen wegstempeln,  Fell begradigen, Augen hervorheben, dodge and burn bis zum abwinken, etc. Nicht selten eine Stunde je Bild. Jetzt sitze ich selten länger wie 30 Sekunden an einem Bild. In 80% der Fälle mache ich außer einem Preset gar nichts mehr. Sehr befreiend. Das Ganze noch auf dem Sofa mit dem iPad bei einem heißen Kaffee, entspannter geht es nicht mehr. 
All das als gesamter Mix macht für mich die Sparte des Straßenfotografen aus und hat mir die Freude an der Fotografie zurückgebracht. 

best regards
Marc



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